Die Regenzeit fängt gerade an. Der Wind wirbelt alles durcheinander, was er auf seinem Weg findet. Kleine Plastiktütchen, in denen Trinkwasser verkauft wird und größere schwarze für Tomaten, Pfeffer und Fisch vom Markt, alte Zeitungen – all das verteilt sich wie Windpocken über das Gesicht der Erde. Schön sieht es nicht aus. Heute wird mein Land 50 Jahre alt. Ist 50 nicht das Alter der Weisheit, das Alter, in dem man sagt: “Das ist doch keine große Sache, ich war schon hier und da, habe dies und das gemacht”? Mit 50 solltest Du einem 18-jährigen Geschichten aus dem Leben erzählen können: an dem Punkt bin ich gestolpert, dort habe ich tief im Dreck gesteckt. Stell Dich auf meine Schultern, so dass du weit voraus schauen und weltweit mit deinen Gleichaltrigen wetteifern kannst.
Aber Nigeria kann solche Weisheit seinen Jugendlichen nicht vermitteln. Ein Land, in dem die Müllabfuhr mal wieder Monate lang nicht kommt und es dem Wind überlässt, aufzuräumen... Ibrahim Babaginda besitzt die Dreistigkeit anzukündigen, dass er bei den Wahlen 2011 als Präsidentschaftskandidat antreten wird und behauptet, die Jungen seien zu unerfahren um Nigeria zu regieren. Wer fragt nach dem Vermächtnis der Alten? Zum Beispiel danach, dass ein 50-jähriger Senator der Bundesrepublik Nigeria – ironischerweise geboren im Jahr der Unabhängigkeit – ein 12-jähriges ägyptisches Mädchen heiraten wird, obwohl es gesetzlich verboten ist, Minderjährige zu heiraten.
Mir graut davor, mir vorzustellen, was es bedeutet, wie sich ein 50Jähriger über den Körper einer 12-jährigen Jungfrau hermacht. Es ist eine Schande, dass Nigeria eines der wenigen Länder ist, in dem die Müttersterblichkeit wegen schlechter gesundheitlicher Versorgung und Verletzungen von Frauenrechten immer noch hoch ist.
Die Warlords von gestern werden heute als Helden gefeiert. Wir sind ein Land mit Kurzzeitgedächtnis. Niemand will Rechenschaft ablegen für die 1 Million Toten des Biafra- Kriegs, die hübschen Söhne, die im Niger-Fluss ertranken, die vergewaltigten Töchter, denen niemand am Valentinstag Blumen schenkt. Hier stehe ich mit 41 Jahren, erzähle Euch die Geschichte vom 50-jährigen Nigeria – und glaubt mir, das Blut in meinem Mund ist kein Ketchup.
Weiterhin wird im Niger-Delta Gas abgefackelt und die Armut ist so extrem, dass ein Mädchen mit irgend einem Mann schlafen würde, um mal wieder den Geschmack von Brot und Tee auf der Zunge zu spüren. Auslaufendes Öl vergiftet immer noch die Flüsse, in denen nur noch kleine, bittere, unessbare Fische leben. Im Rahmen des Amnestie-Programms von Präsident Umaru Musa Yar Adua wurden massenweise Patronen, Raketenwerfer und Schnellboote abgegeben, aber man muss schon sehr dumm sein um den Bildern Glauben zu schenken. Den Großteil der Waffen haben sie natürlich in ihren Verstecken gelassen.
Ich sollte innehalten um zu würdigen, was mir Hoffnung gibt. Zum Beispiel beweist der Gouverneur von Lagos State, Abimbola Fasheun, dass gute Regierungsführung möglich ist, wenn man keine Angst davor hat, anders zu sein. Das öffentliche Verkehrssystem befördert jeden Tag Massen von Menschen über die Straßen, die ausgebessert wurden. Das unglaubliche Oshodi, wo viele Bürger von Lagos wohnen, scheint zu gut um wahr zu sein. Es gibt eine lebendige Literatur-Szene, darunter nicht wenige Frauen: Chimamanda Ngozi Adichie, Sefi Atta, Chika Unigwe, Lola Shoneyin, Unoma Azuah und auch ich selbst.
Nun da es 50 ist, wünsche ich mir, dass sich mein Land an die Zeit erinnert, als wir noch ein grünes Volk waren, vor dem Öl. Uns gehörten Wälder, Fische schwammen in sauberen Seen, wir hatten haufenweise Erdnüsse und Bäume voll von Kakaofrüchten. Unsere Straßen waren nicht übersät von Plastikbeuteln und den Kadavern von Ratten.
Wir müssen uns den richtigen Fragen stellen: Was ist mit uns passiert? Wie konnten wir unsere Städte so verschmutzen? Wie können wir die Generäle davon abhalten, sich die Klinke des Präsidentenpalasts in die Hand zu geben? Mit 50 brauchen wir ein weises Herz. Ich bin davon überzeugt, dass die Zeit des schwarzen Manns kommen wird. Und ich bete darum, dass Nigeria – wenn dieser Wind über Afrika weht – Flügel haben wird, um sich hoch in die Luft zu schwingen.
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Toyin Adewale-Gabriel ist Schriftstellerin und lebt heute in Abuja. Sie war Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart und Writer-in-residence in der Villa Waldberta bei München. Zu ihren bekannten Büchern gehören: Naked Testimonies, (Lagos,1995/2006), Die Aromaforscherin (Stuttgart 1998), Flackernde Kerzen (Stuttgart 1999). Auch als Herausgeberin ist sie hervorgetreten, z.B. mit 25 New Nigerian Poets (ed. Lagos 2000) und16 Nigerian Women Short Stories (ed. Lagos 2005).